Deutsche Fliege

Ein gelber Zug rattert über die Hochbahn. "Jeder dieser Pfeiler symbolisiert eine Etappe des Leidensweges des jüdischen Volkes und ein jeder Zug den erfolgreichen Weg der Deutschen", kommentiert Sascha das Ereignis, während er mit theatralischer Geste auf die Brückenkonstruktion überm Landwehrkanal zeigt. Die Ironie unseres jüdischen Freundes aus Puschchino bei Moskau ist zuweilen drastisch, in diesem Falle ein Echo auf einen zweistündigen Rundgang durch das Jüdische Museum Berlin.

Unser dortiger Guide war Larissa Wechsler, eine in Kreuzberg lebende jüdische Journalistin, die für Russkaja Germanija und Russkij Berlin schreibt. Es war die erste Führung durch den Libeskind-Bau in Russisch. Mangels erläuternder Broschüren hat Frau Wechsler die 15köpfige Gruppe etwas ausführlicher auf die tiefe Symbolik dieser komplexen Architektur, die Bezüge zu jüdischer Religion und Geschichte hingewiesen. Sascha, der promovierte Physiker, empfindet das als etwas zuviel des Guten. Er fühlt sich angesichts der verschlungenen Interpretationen jedes baulichen Details an die kryptische Zeichenmystik der Kabbala erinnert. Überdies ist er ein unverbesserlicher Zyniker, dessen Einwürfe selten leichtverdauliche Kost abgeben. Zumal, wenn es so drückend heiß ist wie an diesem Sonntagnachmittag.

Das Ensemble, sagt er, habe ihn beeindruckt, und er wünsche sich ein Ewrejskij Museij für Moskau, um den allgegenwärtigen Einfluß dieser Lebensart, Kultur und Kunst auch dort anschaulich werden zu lassen. Seine deutschen Gastgeber nicken stumm, obwohl wir diese Parallelisierung so nicht teilen; der eliminatorische Antisemitismus verleiht der Einrichtung in der früheren Reichshauptstadt eine Bedeutung, die sie nirgendwo sonst auf der Welt haben könnte. "Außerdem ist es langsam an der Zeit dafür", schiebt Sascha eine für ihn typische Bemerkung nach: "Juden werden für ihre Umgebung immer erst wichtig, wenn sie weg sind." Wir schlucken, aber sein breites Lachen ist ansteckend.

Später, in der Kroatischen Taverne am Blücherplatz, kreist ein Insekt um Viktorias Teller. "Die Fliege sieht komisch aus", meint Saschas zwölfjährige Tochter, die uns tapfer durchs noch leere Museum gefolgt und jetzt sichtlich froh ist, sich endlich erfreulicheren Dingen widmen zu dürfen. "Irgendwie sieht sie braun aus." – Das sei eben eine deutsche Fliege, erwidert Sascha trocken, rollt mit den großen, dunklen Augen und wirft sich lachend in den Stuhl zurück.

Eike Stedefeldt

Erschienen in Jungle World, 28. Juli 1999

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