Eike Stedefeldt

Schwule an die Front!

Nicht etwa nach gleichen Rechten im zivilen Leben, nach staatlicher Sicherung von sozialen, kulturellen und AIDS-Hilfeprojekten steht der deutschen Schwulenbewegung derzeit der Sinn. Auch nicht die Solidarität mit der Frauenbewegung gegen den Paragraphen 218 oder der Kampf gegen ein "neues" Sexualstrafrecht stehen ganz oben auf ihrer politischen Agenda. Nein, ausgerechnet um die Gleichberechtigung homosexueller Männer in der Bundeswehr geht es.

So beklagte der Schwulenverband in Deutschland (SVD) Ende Januar in einem Brief an Bundesverteidigungsminister Rühe. Schwule hätten keine Chance, als Zeit- oder Berufssoldaten übernommen oder gar Offizier zu werden. "Die Situation für Schwule in der Bundeswehr verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz in der Verfassung", so die Begründung des SVD-Sprechers und grünen Möchtegern-MdB, Volker Beck. Bis heute ist "die Bundeswehr nicht bereit, schwulen Soldaten die Möglichkeit zu eröffnen, Vorgesetztenfunktionen zu übernehmen", meinte auch Dirk Meyer, Sprecher des Bundesverbandes Homosexualität (BVH), in einem Gespräch mit dem Saarländischen Rundfunk. Und forderte am 27. Januar via BILD-Zeitung (!) vom Verteidigungsministerium, "... eine Anweisung zu erlassen, daß die sexuelle Orientierung keinen Anlaß zu Disziplinarmaßnahmen mehr bietet."

Den Anstoß und die Rechtfertigung für das Vorpreschen beider Verbände gab die Amtseinführung von US-Präsident Clinton, der im Wahlkampf unter anderem mit der Ankündigung, Lesben und Schwule in der Army gleichzustellen, die Lesbian and Gay Community hinter sich gebracht und soeben erste Maßnahmen zur Einlösung seines Versprechens getroffen hatte. "Wie wird sich da erst unser 'wortkarger' Kanzler äußern? Hat er denn im Moment nicht wichtigere und größere Sorgen mit der Bundeswehr, als sich über 'die paar Schwulen' den Kopf zu zerbrechen ...?", fragte in einem Anfall von Realitätssinn der reichlich naive Kommentator des Hannoverschen Schwulenmagazins Du & Ich in der April-Ausgabe seine patriotischen Leser, wohl ahnend, daß dem Kanzler momentan die Out-of-Area-Einsätze der Bundeswehr tatsächlich wichtiger sind.

Nun mag für simple Gemüter noch einzusehen sein, daß auch hierzulande Homosexuelle in Oliv nicht benachteiligt werden wollen, zumal, wenn sie nicht freiwillig — wie in der Berufsarmee der USA —, sondern, wie in der Bundesrepublik, als Wehrpflichtige ihrem sonst schwulenfeindlichen Staate dienen. Zur Kenntnis zu nehmen ist indes — und damit sei den bekannten Phänomenen der Rechtsdrift ein weiteres hinzugefügt —, daß von SVD und BVH just zu dem Zeitpunkt eine Debatte um Schwule beim Militär forciert wird, da der Balkan-Konflikt dank aktiver Mithilfe der Kohls und Kinkels bereits eskaliert ist und auch in Bundes(wehr)germanien die Tornister gepackt werden. Dessen völlig ungeachtet streiten sich die sonst so spinnefeinden Verbände seitdem medienwirksam (allein 46 Artikel erschienen dazu laut Schwuler Presseschau im ersten Quartal 1993 in der deutschen Tages- und Wochenpresse) mit den Schreibtischkriegern der Hardthöhe, diskutieren in Presse, Rundfunk und Fernsehen leidenschaftlich, ob es denn nun 13.000 (SVD) oder 40.000 (BVH) Schwule "beim Bund" gebe. All das umrahmt von den blutigen Nachrichtenbildern aus Sarajevo und Srebrenica.

Nicht zuletzt hat auch die Schwulenpresse zum Siegeszug des Themas beigetragen; in fast allen Blättern wurde ausgiebig um die militärische Gleichberechtigung der Schwulen gefochten. Dem Kommentator von Du & Ich war es vergönnt, den Tenor all dieser Debatten auf den Punkt zu bringen: "Wir haben die Pflicht, unser Vaterland zu verteidigen, und dann haben wir auch das Recht auf Gleichbehandlung." Unwichtig die Frage, gegen wen denn das Vaterland derzeit zu verteidigen sei, wichtig ist allein die Botschaft: "Jetzt ist die Zeit, wo man den Angriffen auf schwule Soldaten entgegengehen muß ...", ... und nicht erst, wenn der Krieg vorbei ist und alle Kreuze — ob aus Holz oder Blech — vergeben sind.

Nun hat also auch die Schwulenbewegung dem Pazifismus adieu gesagt. Galt noch vor wenigen Jahren ihre politische Spitze als konsequenter Teil der Friedensbewegung, so trübt sich heute offensichtlich auch hier der Durch- und Weitblick jener, die sich sonst so vehement für Menschen- und Bürgerrechte von Minoritäten einsetzen. Auch daran zeigt sich der Verfall radikal-emanzipatorischer Ideen in der Schwulenbewegung. Ihr Politik besteht in Anpassungsversuchen an das etablierte System. So kommt auch niemand mehr auf die Idee, aus der konkreten Schwulendiskriminierung beim Bund könnten angesichts zunehmender Kriegsgefahren politische Chancen erwachsen. — Nicht mal nur die, sich dem Zwang zum Morden zu entziehen, sondern auch die, das Denken in militärischen Kategorien an sich in Frage zu stellen. Und so zählt alle gern zur Schau getragene Männerliebe wenig, wenn es darum geht, ebenso wie heterosexuelle Soldaten Menschen nicht nur töten, sondern im Ernstfall das Morden auch noch befehligen zu dürfen. Bedauerlicherweise ist somit durchaus glaubhaft, was anläßlich der öffentlichen Diskussion "Schwul — na und? Schwule beim Bund" am 27. November letzten Jahres im Berliner "SchwuZ" ein schwuler Ex-Bundeswehroffizier sagte: "Als schwuler Vorgesetzter würde ich doch die gleichen Befehle geben wie als Hetero."

Ob nun willentlich oder nicht — es läuft letztlich auf dasselbe hinaus: Deutsche Schwule leisten im Frühjahr 1993 mit ihrem Kampf um militärische Führungspositionen Lobbyarbeit für den heißen Krieg. Gesteigerter Beliebtheit erfreuen sich derzeit Seminare wie jenes, das das zum SVD gehörende Karl-Heinrich-Ulrich-Bildungswerk Mitte Juni bei Magdeburg abzuhalten gedenkt: "Hierbei geht es vor allem um den Kasernenalltag, die rechtliche Situation von schwulen Soldaten und Offizieren, die Möglichkeiten, sich gegen Diskriminierung zu wehren, aber auch um Wehrdienstverweigerung", so die Hamburger Szenezeitung Gay Express im Mai. Die Reihenfolge — Alltag, Rechtslage, Schutzmöglichkeiten und erst dann die Verweigerung — mag Zufall sein, paßt jedoch zu der zumindest in der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Zielverschiebung.

Ein schwuler Interessenverband müsse eben "den Finger auch auf unansehnliche Wunden gesellschaftlicher Schwulendiskriminierung legen", steht in der BVH-Zeitung vom April. "So lange es schwule Männer gibt, die ihre (berufliche) Perspektive 'beim Bund' sehen, müssen wir ihre Verwirklichung ermöglichen — unabhängig von der persönlichen Zu- oder Abneigung einzelner der Armee gegenüber ..." Mag die Abneigung einzelner (!) gegen die Armee noch eine Rolle spielen, die gegen das aktuelle Morden tut es in diesem Falle kaum. Einzig ein Gastkommentar im Berliner Szeneblatt Siegessäule — dies aber schon im Vorfeld der Verbandsoffensiven — nahm Bezug auf den realen Krieg, indem er kritisierte, daß bei der oben erwähnten "SchwuZ"-Runde nicht gefragt wurde: "Wie können Schwule helfen, den erneuten Massenmord an Kindern, Frauen und — auch schwulen — Männern im ehemaligen Jugoslawien, Kurdistan und anderswo zu stoppen? Soll das etwa mit einer reformierten, schwulenfreundlichen Bundeswehr geschehen?"

Daß, wenn es um Schwule bei Heer, Marine und Luftwaffe geht, den Köpfen der Homosexuellenbewegung hierzulande das ferne Amerika mit seinen kaum vergleichbaren Verhältnissen als maßgeblich gilt und nicht der nahe europäische Kriegsschauplatz, darf uns der Realität getrost ein weiteres trauriges Stück näher bringen.

Erschienen in Die Weltbühne (Berlin) Nr. 26 vom 29. Juni 1993