Zu dem 1993 in der Spektrum Reihe des Herder Verlages Freiburg erschienenen Sammelband Begegnungen, die Hoffnung machen sind dem Autor leider keine Rezensionen bekannt. Anstelle dessen finden Sie hier das vollständige, noch nicht weichgespülte Manuskript; Verlag und/oder Herausgeberinnen Anetta Kahane und Eleni Torossi strichen ohne Rückfrage zum Beispiel die Namen der rassistischen Abgeordneten und Amtsinhaber ...

 

Eike Stedefeldt

Wo die Freiheit abgeschafft ist

Der Tag war für uns alle anstrengend. Zuerst meine Fahrt nach Rostock – trotz der Herzrhythmusstörungen, dann die letzten Arbeiten am Redemanuskript der übernächtigten, blassen Ausländerbeauftragten, schließlich eine Kreistagssitzung, die uns beinahe die Luft zum Atmen nahm und sich ansonsten jeder halbwegs moderaten Beschreibung entzieht.

Nun ist Conny Fuentes, die Ausländerbeauftragte, bei der Show der "California Dream Men" – sie hat die Ablenkung nach diesem Tag mehr als nötig. Unterdessen sitze ich mit ihrem Mann Mario in einem Wohnzimmer, dem anzusehen ist, wie sehr die beiden von ihrer Arbeit beansprucht werden. Mario und Conny arbeiten für die Asylbewerber im Landkreis Rostock. Dieses "für Asylbewerber" bedeutet leider in den meisten Fällen: gegen die offizielle Politik, gegen eine unmenschliche Verwaltung, gegen korrupte, ausländerfeindliche Abgeordnete und Amts-inhaber.

Was das Ganze so ungemein verschärft, ist die Tatsache, daß es sich bei den Asylbewerbern um Roma handelt, Angehörige eines Volkes also, von dem hier im Wortsinne niemand etwas weiß, niemand etwas wissen will, und dem in diesem Land in aller Regel tiefes Mißtrauen, Vorurteile und Verachtung entgegengebracht werden.

So auch in der Kreistagssitzung vom 5. Mai: Roma klauen, Roma betteln, Roma sind dreckig und gewalttätig, Roma vernachlässigen ihre Kinder. Geballter, volksvertretender Rassismus, der jegliches Wissen schmäht. Ich habe das erleben dürfen, erleben müssen. Habe mit angesehen, wie die ehrenamtliche Ausländerbeauftragte des Verrats am Sozialstaat angeklagt wurde: von Bürgermeistern, Abgeordneten, der Sozialamtsleiterin (Tenor: 'Frau Fuentes wiegelt die Zigeuner auf.') In dem Saal habe ich plötzlich begriffen, warum Mario Fuentes, der Mann, dem mein Besuch gilt, die Sitzung, die Rede seiner Frau nicht mitverfolgen wollte: "Sollen wir hier die Asylanten bemitleiden?... Das Selbstbestimmungsrecht nimmt der Asylbewerber wahr, wenn er sich in seiner Heimat entschließt, nach Deutschland zu gehen" (Abgeordneter Hünecke, CDU, Bürgermeister von Bernitt). "Wenn die sich hier in ihrer Würde verletzt fühlen, ist das doch der beste Grund, abzuhauen!" (Abgeordneter Neumann, CDU). "Wenn die Roma die Verpflegungspakete verweigern, dann müssen wir eben warten, bis der Hunger kommt." (Sozialamtsleiterin Grahp, Neues Forum). – Wer würde sich als Ausländer schon unter solche Menschen, diese Ansammlung dünkelhaften Deutschtums begeben wollen? Das ist nicht zumutbar.

Ich frage Mario – wir sind schnell zum Du übergegangen – danach, wie er in die DDR, nach Rostock kam, und erfahre – in einem Deutsch übrigens, dessen saubere Grammatik und sprachliche Nuanciertheit vielen Eingeborenen zu wünschen wären –, Details seiner Lebensgeschichte. Er ist einer jener Chilenen, die nach dem Putsch Pinochets emigrieren mußten. Mario Fuentes, Jahrgang 1948, aus einer wohlhabenden, großbürgerlichen Familie stammend, war in seiner Heimat Mitglied einer linksrevolutionären Bewegung gewesen, die Salvador Allende unterstützte und nach dessen Wahlsieg 1970 direkt mit dem Präsidenten zusammenarbeitete. Schon zwei Tage nach dem Putsch im September 1973 wurde er namentlich gesucht. Er ging zunächst in den Untergrund, mit falschen Dokumenten. 1975 mußte er dann doch das Land verlassen. Durch Vermittlung der UNO erhielt er in Italien politisches Asyl.

Ende 1975 besuchte Mario die DDR. Sein Vater, Chile-Korrespondent des Fernsehens der DDR, war noch am Tag des Putsches von der DDR aus Chile herausgeholt worden und lebte seitdem in Ostberlin. Mario blieb bei seinem Vater in der DDR. "In Berlin angekommen, empfand ich die DDR als sehr schönes Land. Ich hatte Ruhe und konnte machen, was ich wollte ohne den Druck, etwas machen zu müssen. Die ersten Monate hier waren eigentlich sehr schön, und der Bekanntenkreis meines Vaters machte mir das Leben hier sehr einfach."

Doch das blieb es nicht. Auch die DDR hatte ihre besondere Form des Umgangs mit Ausländern, wie Mario mit leicht ironischem Unterton zu berichten weiß. "In der DDR galt ich als politischer Flüchtling, als Emigrant, und mußte mich an gewisse Regeln halten. Das bedeutete zunächst, daß ich in ein Erholungsheim nach Grünheide bei Berlin mußte. Dort war ich drei Monate, und dann wurde ich "verteilt" – so nennt man das heute, und so nannte man das auch in der DDR schon. Ohne mich zu fragen, wurde ich nach Jena "verteilt". Das wurde mir abends gesagt, und am nächsten Morgen um sechs Uhr mußte ich meine Sachen gepackt haben und wurde nach Jena gefahren. Dieser Mechanismus hat bei mir schon eine bestimmte Ablehnung hervorgerufen."

In Jena warteten eine Wohnung auf ihn und ein Arbeitsplatz im Kulturhaus des VEB Carl Zeiss. Mario lacht, als er sich daran erinnert: "Ich bekam ein Büro, an dessen Tür stand 'Mario Fuentes, Instrukteur'. Bis heute weiß ich nicht, was 'Instrukteur' bedeutet. Ich mußte von acht bis sechzehn Uhr in diesem Büro sitzen und kubanische Zeitschriften lesen. Das war das einzige, was ich gemacht habe, für 900 Mark Netto im Monat."

Drei Monate ertrug er diesen Arbeitsplatz, an dem er nie mit einem Deutschen ein Wort gesprochen hatte. Jeden Morgen fand er neue kubanische Zeitschriften auf seinem Schreibtisch, dann saß er da bis sechzehn Uhr. Sonst nichts. Kein Anruf, keine Aufgabe. Mario kündigte und ging zurück nach Berlin, wo er bei einer deutschen Freundin wohnte. Die Behörden ließen sich das nicht gefallen. Er sollte auf Weisung des ZK der SED wieder nach Jena zurück, weigerte sich jedoch energisch.

Monate später klingelten morgens früh an der Wohnungstür der Freundin vier gutgekleidete Herren, durchsuchten wortlos das Zimmer, packten Marios Sachen in einen migebrachten Koffer. Mario solle mitkommen. "Ich dachte wirklich, die schmeißen mich raus, die bringen mich an die Grenze. Ich wurde in einen Barkas geladen. Die Fahrt nahm kein Ende. Ich fragte, wohin es ginge – keiner antwortete. Nach ein paar Stunden habe ich mir gedacht, so weit kann Westberlin nicht sein, hier stimmt was nicht. Fünf oder sechs Stunden später sah ich ein Schild: 'Willkommen in Rostock'".

In einer Wohnung in der siebten Etage eines Neubaublockes warf man den Koffer aufs Bett, sagte, dies sei ab jetzt sein Zuhause, und seine Begleiter verschwanden. "Es war ein Freitag gegen siebzehn Uhr. Ich war verzweifelt und wußte nicht, was ich machen sollte. Ich entschloß mich, mit dem nächsten Zug wieder nach Berlin zurückzufahren. Ich hatte schon den Koffer in der Hand, als ich auf dem Flur Stimmen hörte. Aber die sprachen Spanisch! Neugierig ging ich hinaus. Auf dem Flur standen zwei Frauen. Als sie mich sahen, meinte die eine 'He, guck mal, der Verrückte ist schon da.' Und ich mußte lachen, wirklich lachen. Monica und Angelica waren chilenische Frauen, die hier schon länger im Exil waren. Monica erzählte mir dann, vor einer Woche seien sie benachrichtigt worden, daß da ein Verrückter kommt, der Mario Fuentes heißt, ein bißchen kompliziert und mit den Nerven am Ende sei und daß sie auf diesen Verrückten aufpassen müßten."

In Rostock traf Mario auf den Schauspieler und Regisseur Alejandro Qintana, den er schon aus Chile kannte. Qintana bot ihm an, in seine Gruppe einzusteigen, die dem Volkstheater angegliedert war. Die Aussicht, seinen Beruf ausüben zu können, ließ ihn bleiben. Eine Woche später unterzeichnete er einen Vertrag mit dem Volkstheater Rostock als Schauspieler. Als sich im Jahr darauf die beiden chilenischen Schauspieltruppen in Rostock auflösten, schlug das Theater den verbliebenen chilenischen fünf Schauspielern und zwei Musikern vor, sie in das Ensemble zu integrieren. "Wir wußten am Anfang nicht, wie das funktionieren sollte. Aber ich glaube, das war ein sehr interessantes Experiment. Wir konnten hier mit den deutschen Kollegen Theater spielen, ohne zu überlegen, daß wir mit Akzent sprechen. Wir haben sehr viele gute Sachen gemacht, das Publikum vergaß sehr schnell unseren Akzent. Ich muß sagen, es hat uns sehr schnell angenommen." Im Theater arbeitete Mario bis Juli 1991. Sein Vertrag war ausgelaufen und wurde nicht verlängert. Es folgte Arbeitslosigkeit.

Ich frage Mario nach Ausländerfeindlichkeit in der DDR und bin erstaunt über seine klare Antwort: "Ich habe die DDR-Bevölkerung als sehr freundlich kennengelernt. Die Erinnerungen daran sind eigentlich nur schön. Die Leute waren immer höflich, versuchten mir, wenn nötig mit Händen und Füßen, alles zu erklären. Ausländerfeindlichkeit habe ich persönlich in der DDR nie gespürt. Selbstverständlich gab es auch Idioten, aber wenn man solche agrressiven Leute traf, stellten sich andere dazwischen, was heute nicht denkbar wäre. In Rostock bin ich in einen Kreis hineingekommen, der nie die Frage stellte, ob ich Ausländer bin oder nicht. Da spielte nur eine Rolle, was wir gemeinsam leisten konnten in bezug auf unsere künstlerische Tätigkeit, wie wir voneinander profitieren konnten. Hinzu kam die kulturelle Arbeit, die wir in Rostock leisteten. Wir beschränkten uns nicht auf Theater oder Schauspielschule, sondern gingen sehr offensiv an die Öffentlichkeit. Wir hatten eine chilenische Gesangsgruppe, eine Folkloregruppe gebildet, die chilenischen Frauen hatten Zirkel eingerichtet, wo deutsche Frauen mitmachen konnten und in denen Stickereien, typische Sachen aus Chile angefertigt wurden. Dadurch wurden wir sehr schnell bekannt. Es ist unglaublich, wieviele Leute mich heute noch grüßen, die ich nicht kenne. Ja, wir haben durch unsere offensive Arbeit hier sehr viel Positives erlebt, und ich meine, die Bevölkerung hat auch von uns profitiert."

"Die Arbeit mit Roma", berichtet Mario, als ich ihn danach frage, wie er zu seinem jetzigen Engagement kam, "war ein Zufall, die Arbeit mit Asylbewerbern nicht. Ich hatte mir schon länger mit meiner Frau Gedanken gemacht, was man tun könnte, um ein zweites Hoyerswerda zu verhindern. Mit Freunden und Bekannten sprachen wir darüber, daß es recht interessant wäre, jene Erfahrungen, die wir als Emigranten Anfang der Siebziger in der Kulturarbeit hier gemacht haben, zu nutzen, um heute fremde Kulturen zu zeigen. Wir haben uns damals nicht versteckt, wir sind 'rausgegangen. Wir haben die Leute gezwungen, sich mit uns auseinanderzusetzen, sich Gedanken darüber zu machen, daß in ihrer Nachbarschaft nicht nur Deutsche leben, sondern auch andere Menschen, die eine ganze Menge Kultur mitbringen. Wir haben unsere Lieder gesungen, wir haben unser Essen gekocht, wir haben den Leuten gezeigt, wie unsere Musikinstrumente herstellt werden und hatten großen Erfolg damit. Wir haben Dinge auf Basaren verkauft oder versteigert, haben Theaterstücke aufgeführt. So dachte ich mir, daß es vielleicht möglich wäre, einen Teil dieser Erfahrungen auf die Leute, die heute hierher kommen, zu übertragen. Einen Teil sage ich, weil die Bedingungen für diese Leute natürlich ganz andere sind als die für die Exil-Chilenen damals in der DDR."

Als der Landrat Axel Peters Mario fragte, ob er bereit wäre, sich mit Asylbewerbern im Kreis zu beschäftigen, sagte er zu. Wenig später fuhr er in das Asylbewerberheim nach Gelbensande. "Ich wußte nicht, daß da nur Roma waren. Bis dahin hatte ich keine Ahnung, was Roma sind oder Sinti. Für mich waren das einfach Rumänen. Und als ich in dieses Heim kam, war meine erste Reaktion, mich umzudrehen und wieder wegzufahren. Aber Axel sagte, nee, jetzt mußt du hier bleiben und versuchen, etwas zu machen, denn genau diese Bedingungen hier möchten wir ändern. Na ja, und dann haben wir die Leute zusammengetrommelt und mit einem Dolmetscher versucht, ihnen klarzumachen, was wir wollten. Das war gar nicht so einfach, und die hatten ja auch ganz andere Sorgen. Aus heutiger Sicht wundere ich mich, daß sie mitgemacht haben. Da kommt ein wildfremder Mensch und fragt: 'Seid ihr bereit, etwas mit mir zu machen?' und sie wußten überhaupt nicht, was. Aber einige sagten trotzdem, okay, versuchen wir's. Zwei Tage später bin ich wieder dorthin. Ich hatte eine Gitarre mit. Im Kulturraum war selbstverständlich niemand, kein Mensch. Ich fing einfach an, zu spielen. Plötzlich kamen ein paar Kinder, haben sich hingesetzt, zugehört. Danach kamen ein paar Mütter, setzten sich hin und hörten zu. Und dann kamen auch ein paar Männer. Erst einmal spielte ich meine Musik, danach forderte ich die Leute auf, ihre Musik zu machen. Auf diese Weise entwickelte sich eine wahnsinnige Feier. Auf einmal haben alle gesungen, viele spielten Gitarre. Dann kam ein Akkordeon dazu und einige fingen an zu tanzen. So bekam ich mit, daß mit diesen Leuten eine Menge zu machen wäre, wenn sich nur jemand bereitfände, sich um sie zu kümmern.

Damit fing es an. Ich habe mir einige dieser Leute herausgesucht, die Instrumente spielten. Ich fragte, ob sie eine Musik- und Tanzgruppe mit mir aufbauen wollten. Sie waren anfangs ziemlich skeptisch. Was für Instrumente sie brauchten, wollte ich wissen. – Gitarren, Akkordeon, Saxophon und so weiter. Ich sagte, okay, besorge ich. Die müssen gedacht haben, ich spinne. Aber ich kam eine Woche später mit Instrumenten wieder, und sie waren sehr überrascht.

Dann haben wir angefangen. Zuerst einmal habe ich sie wochenlang machen lassen, was sie wollten, jede Musik, jeden Tanz, jedes Lied. Danach sortierten wir: Das könnten wir gebrauchen, dies nicht. Aber das Wesentliche ist, daß ich mich in das Programm, das die Roma jetzt mit 'Schadra' aufführen, so wenig wie möglich eingemischt habe. Sie haben es selbst auf die Beine gestellt und ich habe ihnen nur gezeigt, wie man eine Bühne fühlt, die Räumlichkeiten ausfüllt und andere fachliche Dinge. Das inhaltliche Konzept haben sie selbst bestimmt. Manchmal haben wir nur Hinweise gegeben. Und die Roma haben sich durch diese Denkanstöße immer eine Umsetzung einfallen lassen.

Ja, ich bin sehr stolz, daß diese Gruppe 'Schadra' entstanden ist, daß sie heute noch existiert, Einladungen aus ganz Deutschland bekommt. Für mich ist das der Beweis, daß, wenn dieses Land bereit wäre, mit den Menschen, die hierher kommen, zusammenzuarbeiten, es viele Probleme gar nicht gäbe. Ich glaube, viele der Probleme sind gemacht, um bestimmte politische Ziele durchzusetzen. Überzeugt bin ich davon, daß nicht die Asylbewerber das Problem in diesem Land sind, sondern die Deutschen."

Die dunklen Augen meines Gegenüber leuchten schwärmerisch, als er sagt, er wäre sehr angenehm überrascht von der Mentalität der Roma, die eine ganz andere sei als unsere. "Sie haben eine ganz andere soziale Struktur in ihren Familien, als in diesem Land üblich. Gedanken, wie meine Frau und ich sie uns machen, kennen diese Menschen nicht. Sie sagen sich: 'Wenn es heute nicht klappt, wird es morgen klappen. Und wenn es morgen nicht klappt, wird es eben übermorgen klappen. Und wenn ich heute hier nicht mehr leben kann, werde ich in ein anderes Land gehen, und wenn ich dort nicht mehr leben kann, gehe ich und gehe ich und gehe ich.' Und ich denke, diese Mechanismen haben den Roma bis heute erlaubt, in ihrer ganz eigenen Kultur zu überleben. Deshalb stellt sich ihnen auch kaum die Frage, was mache ich, wenn ich abgelehnt werde oder wenn ich abgeschoben werde. Die meisten von ihnen verschwinden sowieso vorher, gehen zurück nach Rumänien oder in ein anderes Bundesland, mit anderem Namen – irgendwie schlagen sie sich schon durch."

Ob es denn nicht schwierig ist, mit Leuten kulturell zu arbeiten, die jederzeit ausgewiesen werden können, möchte ich wissen, ob da nicht immer die Gefahr im Hintergrund ist, daß das Projekt auseinanderfällt. "Bei 'Schadra' haben wir das Glück, daß wir einen sehr progressiven Landrat haben. Mit ihm haben wir durchgesetzt, daß, wenn alle legalen Möglichkeiten ausgeschöpft sind und nichts mehr geht, diese Leute noch eine längere Zeit hier geduldet werden. Bis September habe ich erstmal die Sicherheit, daß keine von meinen Leuten abgeschoben werden. Was danach sein wird, weiß ich nicht. Momentan haben Conny und ich einen Gedanken – den müssen wir aber noch reifen lassen. Also, falls ab September viele von diesen Leuten nicht mehr hier zu halten sind, möchten wir, daß 'Schadra' zurück nach Rumänien geht, dort als Gruppe zusammenbleibt, und wir sie zu bestimmten Anlässen hierher holen. Damit würden wir den Leuten auch ermöglichen, daß sie ökonomische Sicherheit bekommen. Denn als Gruppe sind sie sehr gut, sie haben fast schon Profi-Niveau, obwohl die Bezahlung nicht mal amateurhaft ist."

Die Gruppe besteht heute aus zwanzig Leuten: drei Instrumentalisten, einer Sängerin und acht Tanzpaaren zwischen sechs und zwanzig Jahren. "Schadra" versucht, dem Publikum einen Bilderbogen des Roma-Lebens zu zeigen. "Schadra" bezeichnet in der Roma-Kultur eine bestimmte Art, zu leben. Aber es ist im engeren Sinne kein Zigeunerlager. Eine "Schadra" nennen die Roma etwas, wo Zigeuner sich wohlfühlen. (Mario hat wohl bemerkt, daß ich mich beim Begriff "Zigeuner" nicht recht wohl fühle und erklärt, daß die Roma selbst sich meist "Zigan" oder "Zigeuner" nennen.) "Wir versuchen, eben diese Schadra auf die Bühne zu bekommen, die Momente, wo sie geboren werden, wo sie ein Mädchen heiraten, wo sie sich die Karten legen lassen, wo die Kinder beginnen, zu tanzen ..."

Mir klingt das ein bißchen zu sehr nach "lustigem Zigeunerleben". "Nein, nein," entgegnet Mario, "es wird nicht nur Lebensfreude dargestellt, sondern auch Leid und Trauer. Wir haben versucht, solche Szenen einzubauen, zum Beispiel, wo sich junge Männer um ein Mädchen streiten. Die Gruppe wollte das sehr radikal machen, also auch mit Gewalt, aber ich war dagegen. Ich wollte nicht die Klischees der Deutschen bedienen. Vor einiger Zeit führte eine jugoslawische Roma-Truppe aus den alten Bundesländern hier am Volkstheater 'Die Bluthochzeit' von Lorca in Romanes auf. Hinterher lautete die erste Frage aus dem Publikum, warum die Roma ihre Konflikte immer mit Messern lösen. Es war sehr kompliziert, den Leuten zu erklären, daß 'Die Bluthochzeit' kein Roma-Stück, sondern ein spanisches ist und es keine spezifische Sache der Roma-Kultur ist, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Das ist eine ganz komische Angelegenheit: Wenn ein deutsches Ensemble 'Die Bluthochzeit' spielt, kommt keiner auf die Idee, daß Deutsche ihre Probleme immer mit Gewalt lösen. Aber bei den Roma wird das, was sie spielen, sofort mit ihrer Kultur identifiziert. Diese Erfahrung hat mir gesagt, daß ich solche Klischees nicht bedienen sollte.

Was mich an den Roma fasziniert? Sie haben so eine Lebenskraft. Sie tun alles, was ich gern tun würde, aber woran gesellschaftlichen Zwänge mich hindern. Wenn ich eine Gruppe deutscher Jugendlicher sehe, dann sehe ich in ihren Cliquen einen einzigen Schrei nach Freiheit. Roma nehmen sich einfach diese Freiheit. Darum ist für mich so schwer zu verstehen, warum die Jugendlichen hier so unglaublich romafeind-lich sind. Da können wir nichtmal von Ausländerfeindlichkeit sprechen, das ist in den neuen Bundesländern vor allem Romafeindlichkeit. Das ist für mich wirklich unbegreiflich, weil die Roma eigentlich so leben, wie diese Jugendlichen gern leben möchten."

Natürlich – natürlich? – hat auch das Projekt der Fuentes Schwierigkeiten mit den Mächtigen im Kreis. "Ich habe sehr schnell mitbekommen, daß die Verwaltung mit diesem Projekt versucht, die Roma zu domestizieren. Die Idee war, Konflikte zu vermeiden, in der Bevölkerung Verständnis zu wecken mit dem Ziel, die Roma anzupassen. Aber das geht nicht. Ich habe nicht das Recht, mich in ihr Leben, ihre Lebensweise einzumischen. 'Wer oder was bin ich eigentlich,' habe ich mich gefragt, 'warum soll ich diese Menschen eigentlich verändern?' Denn wenn wir diese Menschen verändern, vernichten wir auch ihre Kultur. Darum bekam ich große Schwierigkeiten. Kulturarbeit ist für die Verwaltung unangenehme Arbeit, nichtmal ein notwendiges Übel. Es heißt ja auch nicht 'Betreuung', sondern 'Unterbringung von Asylbewerbern'. Menschen, die sich kulturell betätigen, werden unbequem, bekommen Rückgrat, gehen aufrecht. Und solche Leute sind für die Verwaltung schwierige Menschen. Das erklärt vielleicht auch, warum die Aktion, die derzeit im Landkreis Rostock stattfindet (gemeint ist die Annahmeverweigerung demütigender Lebensmittelrationen, die laut Erlaß von Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Geil anstelle von Bargeld zur Selbstversorgung an die Roma ausgegeben werden), von dieser Gruppe ausgeht. Sie hat den Protest auf die Beine gestellt. Aus ihr kommen derzeit die Wortführer aller anderen Gruppen im Landkreis. Logisch, denn einerseits hat sich mit dem Erfolg von 'Schadra' ihr Selbstwertgefühl erhöht. Und zum anderen verändert ein wiedergefundenes Selbstwertgefühl auch den Rang in einer größeren Gruppe. Die Stellung von "Schadra" in der gesamten Roma-Gruppe ist folglich heute höher als früher. Das ist auch gut so, weil ihr Einfluß der Zerstörung der eigenen Kultur entgegenwirkt."

Mario meint, er selbst habe sich in dieser Arbeit sehr verändert. "Ich lege heutzutage auf andere Dinge Wert. Äußerlichkeiten spielen für mich eine geringere Rolle, ich habe einen anderen Blick bekommen für Ordnung und Sauberkeit, wie man sie hier begreift. Auch Disziplin ist für mich heute etwas ganz anderes. Ich finde, die Disziplin, die die Roma haben, ist viel angenehmer als das, was Deutsche darunter verstehen. Sie sind durchaus disziplinierte Menschen, aber ihre Disziplin hat bei weitem nicht so enge Grenzen wie hier. Disziplin heißt bei den Roma eben nicht, daß ich jeden Morgen um sieben aufstehen und um halb acht meinen Kaffee trinken muß, weil ich sonst kurz vor acht den Bus nicht mehr schaffe – diese Art von Disziplin kennen sie gar nicht, und sie wollen sie auch nicht. Aber sie haben eine innere Disziplin in bezug auf das, was sie machen. Wie soll ich das erklären? Also, wenn die Roma sich etwas vornehmen, dann führen sie das ganz diszipliniert durch. Das ist schwer zu beschreiben. Ein Beispiel: Wenn sie sich vornehmen, an irgendeinem Tag das Heim, in dem sie leben, sauberzumachen, dann arbeiten an diesem Tag alle Bewohner zusammen. Aber nur, wenn niemand von außen kommt und sagt 'Nun macht mal sauber.' Wenn ich versuche, ihnen irgendwo einen Plan aufzuhängen, wann sie sauberzumachen haben, funktioniert das sowieso nicht, weil sie eben ein ganz anderes Verständnis von solchen Dingen haben. Ich habe aber auch begriffen, daß sie, wenn sie nicht diese innere Disziplin hätten, die letzten Jahrhunderte nicht überlebt hätten.

Was ich ganz besonders an der Roma schätze? Das ist die Hingabe, wenn sie jemanden annehmen. Es ist nicht leicht, das Vertrauen dieser Menschen zu gewinnen, die seit Jahrhunderten überlebten, weil sie sehr mißtrauisch waren gegenüber Fremden. Wenn man aber ihr Vertrauen gewinnt, dann geben sie sich ganz, dann ist es ein grenzenloses Vertrauen. Dieses Vertrauen finde ich einerseits sehr schön, aber es belastet oft sehr. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt jemandem verständlich machen kann, was das bedeutet. Man befindet sich immer in der moralischen Pflicht. Es ist nicht so, daß ich verpflichtet wäre, etwas für diese Leute zu tun, aber ich habe die moralische Verpflichtung, ihnen zu helfen. Ich erfahre viele Dinge von diesen Menschen, die ihnen gefährlich werden könnten, muß immer überlegen, was ich sagen kann und was nicht. Die Gefahr liegt darin, unbewußt etwas von den Roma preiszugeben, denn das Leben mit ihnen ist für mich etwas so Natürliches, so Normales."

Sind die Roma für das, was ihr tut, dankbar? "Ich glaube, wenn sie eines Tages zurück nach Rumänien gehen, dann sind wir jederzeit willkommen. Conny und ich sind sicher, daß es ein Volksfest geben wird, wenn wir sie besuchen. Ich habe gehört, daß dort in verschiedenen Roma-Gruppen schon unsere Namen kursieren. Und ich denke, wenn das, was wir hier in so kleinem Rahmen machen, so eine Wirkung erreicht, dann sind wir auf dem richtigen Weg.

Es hat schon sehr viel mit der Geschichte der Roma zu tun, wenn sie das Wenige so hoch schätzen. Europa hat ihnen sehr viel Leid angetan. Die Vertreibung und Verfolgung der Roma geht ja schon bis ins frühe 14. Jahrhundert zurück. Als sie nach Europa kamen, waren die Roma keine Nomanden. Sie kamen, um hier einen festen Platz für sich zu finden, aber wohin sie kamen, wurden sie wieder vertrieben. Und so wurden sie in Jahrhunderten zu Nomaden gemacht. Auch in diesem Jahrhundert haben sie Vertreibung, Vernichtung, Zwangsdeportationen und Zwangsansiedlungen erfahren. Das Leid dieses Volkes endet bis heute nicht. Ich meine, die Europäer haben auch Verantwortung in bezug auf diese Minderheit und ihre Kultur, die durchaus das Recht hat, genau wie alle anderen ethnischen Minderheiten gleichberechtigt zu existieren. Daß sie nicht denselben Status bekommt, kann ich nicht begreifen. Vielleicht ist es hier so, daß mindestens eine Minderheit übrigbleiben muß, um einen Sündenbock zu haben, den man im Notfall für alles verantwortlich machen kann.

In Chile habe ich da ganz andere Erfahrungen gemacht. Wir kannten diese Leute in Chile eben als Zigeuner und nicht als Roma oder Sinti. Die Bilder, die ich von den Zigeunern dort im Kopf habe, sind sehr angenehme, und die Klischees, die es hier gibt, existieren in Chile nicht. Sie haben dort auch keine der Schwierigkeiten wie hierzulande.

Nun, die deutsche Bevölkerung bekommt das ja gar nicht so mit. Wenn wir zum Beispiel die spanische Folklore nehmen, diese Musik, die Tänze, den Flamenco – das ist doch pure Zigeunermusik. Ich verstehe nicht, warum einige Länder Europas das 'Zigeunerproblem' gelöst haben und andere nicht dazu in der Lage sein sollen. Wenn ich mir Spanien und Portugal angucke, wo eine große Anzahl Zigeuner lebt, und wo man gelernt hat, mit diesen Menschen nicht nur zusammenzuleben, sondern aus diesem Zusammenleben auch Profit zu schlagen, dann frage ich mich, warum das die Deutschen nicht können. Ich finde die Argumente, die mir hier manchmal entgegengebracht werden, so lächerlich. Hier ist 'Zigeuner' ein Schimpfwort, und das gleiche Wort ist in anderen Ländern ein Synonym für Stolz. Wenn du in Spanien 'Gitano' oder 'Gitana' sagst, dann werden damit vor allem Stolz und die Schönheit der Frau in Verbindung gebracht. Aber 'Zigeuner' hat im Deutschen etwas Negatives. Dabei ist der Einfluß, den diese Kultur hier trotz alledem hat, nicht gering.

Weißt du, ich habe mal irgendwo einen wunderbaren Satz gehört: 'Wo du Zigeuner siehst, herrscht Freiheit. Wo du keine Zigeuner siehst, ist die Freiheit abgeschafft.'"


*


Als Conny spät am Abend nach Hause kommt, entschuldigt sie sich noch einmal für die Unordnung. "Da müssen mal wieder die Zigeunerchen kommen und mir beim Aufräumen helfen." Und wie zur Bestätigung dessen, was mir Mario in den letzten Stunden über die Roma erzählt hat, erklärt sie: "Die Zigeunerchen räumen anders auf als wir. Das gute Geschirr stellen sie im Schrank nach hinten und das schlechte nach vorn." Warum? "Einbrecher haben wenig Zeit, und dann nehmen sie eben zuerst das schlechte Geschirr mit." Ich muß schmunzeln, und die naive Vorstellung der "Zigeunerchen", ein Einbrecher in diesem Lande könnte heute noch auf Porzellan aus sein, macht sie mir ungemein sympathisch.

Epilog

Drei Wochen nach meinem Besuch in Rostock telefoniere ich mit Conny Fuentes. "Die gute Frau Grahp hat ihren Sieg errungen", erfahre ich. Gut eine Woche haben die "Zigeunerchen" den Boykott der Lebensmittelpakete durchgehalten, dann siegte bei den ersten Familien der Hunger. So, wie Frau Grahp, Mitglied der Bürgerbewegung und Anwältin der "so vielen nicht aus eigener Schuld in die Sozialhilfe geratenen Menschen bei uns", es den Abgeordneten prophezeit hatte. Vierzehn Tage nach der Kreistagssitzung waren die ersten Roma verschwunden, weggezogen. Mit den Rationen konnten sie nicht einmal ihr gewohntes Brot backen. Andere sind noch da – noch, weil Conny und Mario Fuentes soviel für sie getan und gebeten haben, sie mögen bleiben. Was aus dem Projekt "Schadra" wird, ist ungewiß; die Gruppe löst sich durch den Weggang vieler Familien langsam auf. Schon jetzt müssen für den letzten geplanten Auftritt Ersatztänzer aus anderen Heimen einspringen.

Schadra bezeichnet einen Ort, wo Zigeuner sich wohlfühlen. Im Landkreis Rostock gibt es keinen solchen Ort mehr. "Hier ist die Freiheit abgeschafft", sagt Conny Fuentes, Ausländerbeauftragte im Landkreis. Das klingt bitter und sehr wahr.