Ein paar Frischzellen

Die Geschichte der DDR-Homosexuellen ist noch nicht geschrieben. Doch es kommt Bewegung in die Sache. Nach vereinzelten Veranstaltungen während der 90er Jahre organisierte der Landesverband Sachsen-Anhalt des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland im Oktober 2005 im Magdeburger Roncalli-Haus eine Tagung über „Lesben und Schwule in der DDR“. Ein knappes Jahr danach ist dem Hamburger Historiker Wolfram Setz eine erste Zusammenstellung von fundierten Texten zum Thema zu verdanken. Von Michael Heß

Natürlich sind die Beiträge subjektiv geprägt. Sie erheben deshalb keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit für „die“ Szene in der DDR. Ihre enorme Faktenfülle ist jedoch mehr als ein Ausgleich, und allein diese Dichte an zuvor selten gelesenen Informationen zeichnet ein hinreichend stimmiges Bild der Lebenssituation von Homos im anderen deutschen Staat.

Sehr viel früher als in der Bundesrepublik begann in der DDR die juristische Emanzipation Homosexueller. Bereits im Dezember 1957 bestimmte das Strafrechtsergänzungsgesetz StEG die Nichtverfolgung von geringfügigen oder öffentlich uninteressanten Straftaten. Im Juli 1968 ersetzte der neue § 151 den 175er; das Schutzalter für gleichgeschlechtliche Handlungen lag nun bei 18 Jahren. Zum Vergleich: in der Bundesrepublik galt damals noch der § 175 in seiner nazistischen Version.

Die juristische Liberalisierung erlaubte strukturelle Entwicklungen – übrigens auch mit Hilfe von Impulsen aus Westberlin. Wer es noch nicht wußte, kann es nun aus fundierter Feder nachlesen. Daß sich die erste Schwulengruppe in der DDR, die Homosexuelle Initiative Berlin HIB, bereits im Januar 1973 gründete. Wenige Monate später konnten die Teilnehmer der „X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten“ ein Transparent bestaunen, auf dem Homosexuelle die Teilnehmer begrüßten und sich eindeutig für den Sozialismus in der DDR aussprachen. Damit war ein wichtiger Aspekt genannt: die Bejahung des gesellschaftlichen Systems durch einen Großteil der Aktiven – und das bis zum sich abzeichnenden Ende der DDR.

Über „Erfahrungen schwuler Männer in der DDR und in Deutschland Ost“ schreibt Bert Thinius als Betrachtung homoerotischer Reflexionen in Kunst und Kultur des Arbeiter- und Bauernstaates. Den Zusammenhang von Sozialismus und schwuler Identität reflektiert Olaf Brühl, der zugleich das nicht immer spannungsfreie Verhältnis von kirchlichen und außerkirchlichen Gruppen verdeutlicht. Lesenswert der Beitrag von Peter Rausch „Seinerzeit, in den 70ern“. Doch doch, da gab es sie in Erich Honeckers Wohlfahrtsdiktatur schon, die organisierten Homos. Rausch war am 15. Januar 1973 einer der Mitbegründer der „Homosexuellen Interessengemeinschaft Berlin“ und schildert Aufstieg und stilles Entschlafen dieser ersten homosexuellen Selbsthilfestruktur der DDR in schöner Prägnanz.

In gewisser Weise den Kontrapunkt zu Olaf Brühl setzt Klaus Laabs’ kurzer Beitrag „In eigener Sache, maskiert“. Ein bitterer Text über Selbsttäuschung und Enttäuschung, über naiv betriebene und zwangsläufig gescheiterte Fürstenaufklärung. Ein Text, der den „langen Versuch“ beschreibt, „beides zu leben: das normale Leben mit der Maske des guten, gern auch besonders guten Genossen und ganz privatim und ins Nächtige gebannt, ein selbst bestimmtes schwules Ausleben in der immer größer werdenden real existierenden Zwischenwelt“. Am Ende aber war stets Vergeblichkeit und Scheitern, allen realen oder scheinbaren Erfolgen zum Trotz. Laabs’ Beitrag fehlt die distanzierte Lockerheit der anderen Autoren. Er atmet immer noch Bitterkeit und läßt am stärksten die seelischen Spannungen spüren, denen viele DDR-Homoaktivisten unterlagen. Nochmals anders umreißt Michael Sollorz seinen „Sozialismus mit Männer-Tanz“ als ironisch gefärbte Schilderung seinerzeitiger Unzulänglichkeiten. Daß der Wille zuweilen nicht genügte, selbst wenn die Richtung (vermeintlich) stimmte, wurde eben auch zum Gemeinplatz damaliger Bewegung.

Zwei Beiträge haben es in sich. Zunächst ein Interview Eike Stedefeldts mit Wolfgang Schmidt, seinerzeit Oberstleutnant im Ministerium für Staatssicherheit. Bei Schmidt liefen die Informationen zur sich ab Beginn der 80er Jahre entwickelnden Lesben- und Schwulenbewegung zusammen. Da ist ein kleiner, aber sehr wichtiger Unterschied in der Formulierung. Bis 1989 war für das MfS nicht der Homosexuelle an sich interessant (bzw. Homosexualität) sondern solche, die sich über das Thema außerhalb staatlich gegebener Möglichkeiten organisierten. Schmidt lakonisch: „Es war ja auch vom Umfang her nie eine Massenbewegung.“ Ergänzend beleuchtet ein Text das Verhältnis von Homosexuellen und Staatssicherheit in den frühen 60ern. Der im Schlapphutgewerbe tätige Autor war selber homosexuell. Das prägte seinen putzigen Blick auf den Gegenstand.

Abschließend analysiert Florian Mildenberger (der einzige „Wessi“ der Autorenschar) kenntnisreich die wissenschaftlichen Metamorphosen des Prof. Dr. Günter Dörner, auch bekannt als „Ratten-Dörner“. Seine endokrinologische Experimente mit Ratten führten 1967 zur Ankündigung, die Entstehung von Homosexualität verhindern zu können. Die wissenschaftlichen Volten des Günter Dörner sind ein sehr eigener Aspekt des Themas.

Mildenberger ausgenommen, verkörpern die sieben Autoren den Typus des Aktiven, der sich gerade nach dem Ende der DDR ein differenziertes Bild auf diese bewahrte und ideologischen Vereinnahmungsversuchen entzog. Obgleich beispielsweise Olaf Brühl und Michael Sollorz in der DDR in kirchlichen Strukturen tätig waren, vollzogen sie nicht die übliche „Karriere“ über den im Februar 1990 gegründeten „Schwulenverband in der DDR“ (SVD) in den heutigen LSVD. Sie formulieren aus ihrer Biographie heraus An- und Einsichten, die in der momentanen sexualpolitischen Diskussion kaum zu hören sind. Mehr noch, verfügen sie über ein bemerkenswertes Störpotential für jegliche auf Gleichmacherei angelegte „Bürgerrechtspolitik“ insbesondere im grünen Dunstkreis.

„Homosexualität in der DDR“ beleuchtet kritisch einige Lebenslügen östlicher Homobewegter. Zuallererst wird der überaus beliebte Topos einer kirchlich behüteten Schwulenbewegung durch die Beiträge des Buches widerlegt. Der Anteil religiös eingefärbter Strukturen wie des Arbeitskreises „Schwule in der Kirche“ Mitte der 80er an der homosexuellen Emanzipation zwischen Elbe und Oder ist fraglos anerkennenswert. Wie so oft war die Realität aber auch in diesem Punkt komplexer, denn es gab bereits früh ein schwulenbewegtes Leben, das sich betont außerhalb der Evangelischen Kirche mit ihren Friedens- und Umweltgruppen artikulierte. Folgt man dem Verlauf der eingangs erwähnten LSVD-Tagung, traf dies für Lesben übrigens noch mehr zu als für Schwule, und das hatte sehr viel mit der Rolle der Frau im real existierenden Sozialismus zu tun.

Die Beiträge verdeutlichen nämlich andererseits die sozioökonomische Modernität der DDR besonders im Vergleich zur BRD. Viel wurde bereits vergleichend geschrieben über Frauenemanzipation und Familienmodelle. Ein Vergleich des Alltagslebens von Lesben und Schwulen in beiden deutschen Staaten liegt dagegen immer noch nicht vor. Unbestritten aber hatten die Homos östlich von Elbe und Werra die Nase vorn, wenn auch vollzogen durch Akte eines paternalistischen Staatswesens (andererseits reagiert jede noch so paternalistische Obrigkeit immer auch auf reale Entwicklungen).

Einen schlagenden Beleg für diese These liefert einmal mehr der MfS-Offizier Wolfgang Schmidt: „Natürlich spielte der § 151 StGB eine Rolle. Ich hatte vorgeschlagen, daß man diesen Paragraphen bei der nächsten Strafrechtsänderung ersatzlos streichen sollte. Aus MfS-Sicht gab es nichts, was dem entgegengestanden hätte.“ Um noch eins draufzusetzen: „Unmittelbar nach der Aufhebung des alten § 175 mit dem neuen Strafgesetzbuch der DDR hatten sich auch schon Zusammenschlüsse gebildet, die eine Organisation Homosexueller anmeldeten. Das ist damals abgelehnt worden.“ Immerhin und bereits 1968!

Zu guter Letzt wirft das vorliegende Buch die Frage auf, was weiter geschehen wäre im Falle einer fortbestehenden DDR. Auf welche Weise die juristische Liberalität im Alltag Echos gefunden hätte. Besonders pikant ist dieses Gedankenexperiment im Wissen um den im Westen Deutschlands bis zum 11. Juni 1994 fortbestehenden § 175. Daß eine liberale Homo- respektive Sozialpolitik allein kein zukunftsfähiges Staatsgebilde ausmacht – geschenkt. Ebenso geschenkt wie die ab 1990 um sich greifende Erkenntnis, daß überbordende Supermarktregale dafür ebenso wenig eine Gewähr bilden.

Wenn es am hier besprochenen Buch einen Punkt zu bemängeln gilt, so ist es das weitgehende Fehlen lesbischer Aspekte. Ein Grund dafür mag in der Unsichtbarkeit vieler lesbischer Beziehungen liegen. Zwei befreundete Frauen mit oder ohne Kinder paßten und passen bis heute besser ins gesellschaftlich akzeptierte Bild als jenes zweier Herren. Rechtliche Gleichstellung hin – formale Akzeptanz her. Überdies war für Lesben der rechtliche Druck des Staates zumeist deutlich geringer als für Schwule. Hier ist nicht der Platz, diesen Umstand ausführlich zu erörtern; gleichwohl sei er wenigstens erwähnt.

Das Fazit könnte weniger sein: Die Geschichte der Homosexuellen in der DDR ist viel mehr als die Geschichte einiger Aktiver unter dem Dach der evangelischen Kirche. Doch sie ist, nicht zuletzt aus ideologischen Gründen, noch nicht geschrieben worden. Bert Thinius’ Erkenntnis „Ob wir wollen oder nicht, unsere Geschichte gehört zu uns“ ist unbedingt zuzustimmen. Obgleich das Buch weder Repräsentanz noch Vollständigkeit beansprucht, bietet es erstmals fundierte Anstöße, genau dies zu tun. Für die sexualpolitische Debatte der Berliner Republik käme es einer Frischzellenkur gleich.

 

Wolfram Setz (Hrsg.): Homosexualität in der DDR. Materialien und Meinungen. Männerschwarm Verlag Hamburg 2006, 288 Seiten, 14,00 Euro

Rezension aus Gigi Nr. 46 (Nov./Dez. 2006)