Kreuzberger Notizen

Unter anderem "von Straßen, Plätzen, Häusern und Menschen" in meinem Bezirk berichte ich seit 1998 in dieser Kolumne. Wie schade, daß ich von der Premiere eines Buches am 1. Juni 2002 im Kreuzberg Museum erst Monate später erfuhr, dessen Untertitel dasselbe verspricht. Allerdings mit dem Zusatz "aus den siebziger Jahren". Das ist nicht gelogen, aber ganz falsch: Das Werk handelt von Immobilien und Menschen in den siebziger Jahren (die in Kreuzberg bekanntlich schon im Mai 1967 begannen) und beinhaltet laut Werbung "die tagebuchähnlichen Aufzeichnungen von Katharina Wiessner, in denen sie die Veränderungen in Kreuzberg, rund um das Kottbusser Tor, in den 70er und 80er Jahren beschreibt". In diesen Jahren, heißt es weiter, "lief Katharina Wiessner" – wer tut das nicht in seiner Heimatstadt? – "fast täglich durch die Straßen; sie nahm die Eingriffe wahr, sie sprach mit den Menschen, und sie notierte alles". Nun ja, dieses "alles" ist etwas übertrieben. "In ihren Aufzeichnungen gibt sie die Stimmung wider (!), das Lebensgefühl, das damals in Kreuzberg herrschte." Nö, diese Tagebuchskizzen geben – schade, schade – allenfalls Stimmung und Lebensgefühl einer reichlich frustrierten Kreuzberger Kleinbürgerin in Form intensiver Selbstbespiegelung wieder.

Sie mögen einwenden: Schon so manches Diarium endete als erstklassige Belletristik. Gewiß. Daß ihres nicht dazu gehört, ist der 1996 Verstorbenen schwerlich vorzuwerfen. Es waren ihre postumen Herausgeber, die leider übersahen, daß sie ohne Dramaturgie, ohne Höhepunkte, ohne Pointen schrieb. Menschen, auch Örtlichkeiten, die auswärts niemand kennt, muß eine Autorin plastisch und interessant schildern, notfalls durch Überzeichnung. Ein solcher Appell an die Phantasie des Publikums war Wiessners Sache nicht. Was sie dagegen für literarisch hielt, dokumentieren philosophische Kostbarkeiten der Art "Manchmal treten traurige Dinge vor der Heiterkeit eines Tages zurück - und das ist gut so, sonst würden sie uns erdrücken" oder "Sinfonien von Beethoven, deren Melodien sich außerdem dem innern Ohr mitteilen".

Eine Beethoven-Sinfonie hätte dem inneren Ohr sicher nicht weniger mitgeteilt darüber, ob die 1936 nach Berlin gezogene Schlesierin berufstätig war oder wie sie zwei Jahre vor Kriegsende zu der größeren Wohnung kam, als ihre Texte selbst und das dürftige Vorwort von Franziska Schmalz ("Redaktion und Lektorat"). Auch nicht darüber, ob sie selbst wollte, was Horst Wiessner (wer immer das sein mag) und der Verein zur Erforschung und Darstellung der Geschichte Kreuzbergs e.V. unternahmen: das Manuskript herausgeben. Das Ergebnis ist ein Buch, dem es neben wirklichem Konzept und ausführlicher Personalie zur Autorin vor allem am genre- und stilsicheren Lektorat gebricht, weshalb zum Beispiel in Wiessners früherem Bad "jetzt vier Türkenkinder" nicht planschen, sondern "herumplätschern".

Bei weitem übler ist jedoch – "Schon lange wollte ich über unsere türkischen Mitbürger schreiben" – jene demonstrative Fremdenfreundlichkeit, die (so in konstruierten Dialogen mit Wiessner in der Rolle der guten Deutschen) nie ohne Nützlichkeitserwägung auskommt und sich legitimiert mit dem alten Persilschein: "Man glaubt es kaum, daß nach allem, was Hitler" – und nicht etwa der Kreuzberger Kleinbürger – "unter den deutschen (!) Juden in Deutschland und im Ausland angerichtet hat, noch immer zu wenig gelernt worden ist."

Der Autorin wären dieses postume 184-Seiten-Paperback und erst recht der häßliche Umschlag besser erspart geblieben. Zum Glück wird es im Print-on-demand-Verfahren hergestellt; das Kreuzberg Museum vertreibt es zu 14,80 Euro in der Reihe "Stadtteil-Geschichte".

Der Name des Buches ist übrigens ganz hübsch. Was stört ist nur, daß die offenkundig unterlassene, aber übliche Internet-Recherche binnen Sekunden ergeben hätte, daß er längst für ein Buchprojekt des Verlages Ossietzky vergeben war: "Kreuzberger Notizen".

Eike Stedefeldt

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