Zu Hause kannst du Käse in der Sprühdose kaufen

Von Eike Stedefeldt

Als sich die Tür zu der kleinen Schöneberger Wohnung öffnet, fällt mein Blick zunächst auf Benny. Ein grauer Kater, der mindestens zehn Kilo wiegen muß und mich argwöhnisch mustert. Ich bin zum ersten Mal hier. Paul begrüßt mich mit einem schüchternen Lächeln, nicht ohne Charme. Ich hatte ihn mir anders vorgestellt. Größer, mit langen blonden Haaren, so, wie ich ihn auf einem Poster gesehen hatte. Der Mann aber, der mir gegenübersteht, ist schmächtig, blaß, und hat kurze Haare. Seine Stimme ist die eines Jugendlichen.

In der Küche sitzen ein paar Bekannte. Der winzige Tisch ist überfüllt mit Eßbarem. Die Freunde reden auf Paul ein, er möge noch etwas essen. Er nimmt ein Stück Kuchen, ißt es mit sichtlichem Appetit. Was, wie ich später erfahre, nicht die Regel ist. Paul mag nicht essen, schon gar nicht, wenn er allein ist. In den letzten Jahren ist er mager geworden. Paul hat AIDS.
Inzwischen haben sich die anderen zurückgezogen, und wir sitzen in Pauls spärlich möbliertem Zimmer, das er zur Untermiete bewohnt. Die eigene Wohnung hat er vor einiger Zeit aufgeben müssen; seine Körperkräfte reichten immer weniger für die drei Treppen.
Wie es ihn überhaupt nach Berlin verschlagen hat, möchte ich wissen, und Paul meint, das wäre eine lange Geschichte.

1966 wurde Paul Leslie Taylor in Clinton am mittleren Mississippi geboren. Der Stiefvater war Aluminiumarbeiter. Die Mutter, ausgebildete Sekretärin, ist bis heute Hausfrau. Seine frühe Jugend sei nicht so schön gewesen, sagt er. "Später wollte ich Schauspieler werden oder Sänger und hätte damals nie gedacht, daß ich eines Tages Friseur sein würde. Ich wollte ans Theater, etwas mit Keramik oder Malerei machen."

Mit 17 fanden seine Eltern heraus, daß er schwul ist "und haben nicht so gut reagiert", wie Paul den Rauswurf milde umschreibt. "Damals, nach meiner Highschool-Zeit, war ich auf dem College, studierte schon fast zwei Jahre Kunsttheorie und Theaterwissenschaft. Aber ich hatte meinen Abschluß noch nicht gemacht, und so ließ ich alles liegen. Ab nun mußte ich selbst für mich sorgen, Geld verdienen und eine Wohnung suchen."

Was in den USA nicht so leicht ist. Zu dieser Zeit wollte eine Freundin mit ihren drei Kindern nach Florida ziehen. Paul fragte, ob er mitkommen könne, er würde den Babysitter machen. Sie sagte Ja. Ohne Garantie dafür, wo er wohnen und wovon er leben sollte, ging er mit nach Orlando.

Er hatte Glück. Am ersten Tag schon bekam er einen Job in einem Fast-Food-Restaurant. Über einen Gay Community Service fand er ein Quartier. Eine Friseurausbildung schien ihm als in dieser Situation am günstigsten. Am Anfang machte ihm das auch Spaß. Nur in der Schule bekam er stets Probleme. Mit 17, 18 Jahren war er sehr wild, trug schwarze Sachen, weiß gebleichte, punkmäßig austouppierte Haare. "Ich hatte sogar kleine Elfchen-Stiefeletten und Leggings an. Damit haben sie mich aus der Schule geworfen, weil sie meinten, die Leggings sähen pervers aus. Ein anderes Mal wurde ich rausgeschmissen, als ich beim Guten-Morgen-Sagen meinen Stielkamm in meinen Modellkopf stieß. Ja, diese Zeit war ganz witzig, ich habe immer Neues ausprobiert. Und wenn eine neue Farbe rausgekommen war, dann hatte ich eben aubergine-lila Haare."

Die Ausbildung dauerte acht Monate. Doch dann suchten die Salons nur Leute mit Erfah-rung. Schließlich eine "Titti Bar", von denen es ganze Ketten gibt; zum Beispiel die "Doll Houses of America". Und in zweien dieser Doll Houses, dem "Flash Dancer" und dem "Playhouse" wurde Paul angestellt. Er frisierte und schminkte die Tänzerinnen vor dem Auftritt. Diesen Job bezeichnet Paul heute als den interessantesten seines Lebens. Das hört sich seltsam an bei einem Mann, der nicht einmal 28 ist.

"Meine Chefin hat nur Schwule als Visagisten und Friseure engagiert, denn bei den Frauen siehst du ja hinter der Bühne alles. Mich hat fasziniert, wie frei und offen die Frauen dort mit einem arbeiten. Es war eine ziemlich ironische, verrückte Atmoshäre in dieser Szene. Sehr leicht. Wir haben viel gelacht und herumgealbert, also ich hab denen an die Titten gefaßt und die mir an den Schwanz und gefragt, ob sie versuchen dürften, mich zu bekehren: 'Geh mit mir, und in fünf Minuten bist du glücklich.' Das ist ein bißchen wie eine kleine Familie gewesen, und ich habe ja mit den Mädchen auch private Kontakte gehabt."

Etwa zu dieser Zeit begann Paul mit der Travestie. "Mein erster Bühnenauftritt war ein Erfolg. Es gibt Wettbewerbe wie 'Miss USA', wo du dich mit Abendkleid, Talent und Badeanzug als Frau präsentieren mußt. Nach meinem Umzug nach Florida lernte ich in der Schwulenszene einen Travestiekünstler kennen. Er war bereits 'Miss Gay USA'. Er hat mir alles gezeigt: Wie schminke ich mich, wie präsentiere ich mich auf der Bühne, wie bewege ich mich. Danach wurde ich 'Miss Jacksonville' und 'Miss Florida'. Mit der Zeit wurde das ein Hobby für mich."

In Orlando lebte Paul fast vier Jahre. Er begann, durch Florida zu touren. Uwe, der in Orlando Urlaub machte, brachte Paul für sechs Monate eine Beziehung. 1989 lud ihn sein Freund ein, doch nach Berlin zu ziehen. "Ich habe lange das Für und Wider überlegt. In dieser Striptease-Kneipe wurde viel mit Drogen gehandelt, und auch ich war damit in Berührung gekommen. Deshalb überlegte ich, in Florida alles aufzugeben, um aus dieser für mich destruktiven Umgebung auszubrechen. Ich habe mir gesagt: 'Okay, wenn ich hier bleibe, werde ich nicht alt.' Ich habe also Geld gespart und dann alles aufgegeben. Die erste Zeit war wirklich schwer. Ich konnte kein Wort Deutsch außer 'Guten morgen'".

Paul weiß nicht mehr, mit welchen Erwartungen er nach Berlin kam. "Ich hatte nur Uwe im Kopf und war total geil darauf, Europa zu sehen. Am Anfang wohnte ich mit Uwe in derselben Wohnung. Dann fand ich ein Zimmer in Kreuzberg bei einer Künstlerin. Ich begann bei Udo Walz, der absoluten Nummer Eins in Berlin, als Friseur. Er wollte aber etwas anderes als ich. Ich hatte eine amerikanische Ausbildung, und er wollte es europäisch. Ich mußte den europäischen Stil, zu frisieren, erlernen, also mit Bürsten und so. In Amerika arbeitet man mehr mit dem Welleisen und dem Fön und Einlegen. In Amerika brauchen wir keine Rundbürste zum Ausfrisieren."

Sein Chef riet ihm, den Laden zu wechseln. Im nächsten Geschäft wurde er – ohne Stammkunden – wie ein Auszubildender bezahlt. Die Kunden hatten Angst und wollten bei ihm keinen Termin. Auch gab es zunächst noch Sprachbarrieren. Später wech-selte Paul in ein Geschäft, das ihm sehr gefiel. Der Chef war, wie er, Travestiekünstler und schwul.

Und Berlin selbst? Paul reizt das Nachtleben, die Kulturfülle, die Architektur. Völlig anders als Amerika, sagt er. Ich frage, wie Paul die Deutschen begegnet sind und muß spontan lachen: "Die Deutschen gucken mich an, als wäre ich gerade vom Baum gefallen." Und er fährt fort: "Ich habe eine andere Erscheinung, eine andere Persönlichkeit. Die Leute müssen mich zweimal angucken, und sagen dann 'Oh, der ist verrückt!' Typisch deutsch – das heißt für mich ziemlich steif, sehr genau, etwas seriös aussehend. Wenn Deutsche in der U-Bahn sitzen, dann gucken sie so:" – Pauls Mine verfinstert sich – "keiner lächelt. Wenn ich dagegen offen und freundlich bin, habe ich mit den Deutschen Probleme, weil sie denken, daß ich übertreibe. Aber so bin ich nun mal. Das macht meine Persönlichkeit aus."

Paul hat sich in der Zeit in Deutschland verändert, wie er sagt, ist ziemlich ruhig geworden. "Ich weiß zwar was ich will, gerade auch in den Beziehungen zu Menschen, aber ich kann das nicht bekommen. Für die deutschen Männer bin ich einfach zu freundlich, zu extrovertiert. Und sie haben Probleme damit, sich zu öffnen. Da ist immer eine Wand, und sie sind ziemlich kalt. Wenn du aber diese Wand einreißt, dann ist es total geil und schön, und mit diesem Menschen kannst du dann eine lebenslange Freundschaft haben."

1991 nahm Paul erstmals an einem Wettbewerb zur 'Miss Christopher Street Day' in Berlin teil. Eine Enttäuschung. "Ich bin dorthin gegangen, wie es in Amerika üblich ist, sehr professionell, etwas streng, aber nett. Das war eigentlich ein Müll-Wettbewerb. Tunten hatten sie da mit Schnäuzer, aber angemalten Augen. Alles war so trashy, nach dem Motto 'Mach, was du willst'. Die Jury hat mich für mein Aussehen sogar bestraft. Gewonnen haben die Tunten mit Haaren auf der Brust – total unprofessionell. Na ja, als ich sah, wie das läuft, sagte ich mir: Fuck it! Dann kam doch noch jemand aus dem Publikum, der sagte, ich mache auch Shows, du bist toll, arbeiten wir zusammen. Mit ihm landete ich beim Berliner Tuntenball, wurde auch als Einlage bei Privatfeiern, Hochzeiten usw. engagiert. Dann trat ich im "Joe" in der Hasenheide auf. Damit wurde ich etwas populär in der Szene."

Der Perfektionist kann dennoch herzlich lachen über die Konkurrenten "mit Schnauzern und perlmuttblauen Lidschatten bis hoch zu den Augenbrauen, die aufgemalt sind, als wenn du mit einem Stift um ein Glas gehst". Aber für ihn ist Travestie mehr. "Es muß eine Illusion sein, mit Perfektion, so daß die Leute fragen: Ist das real oder nicht? Ich bringe verschiedene Charaktere auf die Bühne. Meine Lieblingsrolle ist Taylor Dayne. Wir haben die gleiche Gesichtsform, und ich versuche, sie in allem perfekt zu kopieren. Ich arbeite mit Voll-Playback, singe aber auch live. Ich hatte ja auch 13 Jahre Stimmunterricht, habe Beethoven, Mozart etc. gesungen, auch Operetten. Ich bringe sehr gern Rock 'n Roll auf die Bühne, beschränke mich nicht auf die typischen Tunten-Nummern wie 'Cabaret'. Ich mag zum Beispiel Stevie Nicks von Fleetwood Mac, ich habe da ein Kostüm aus 32 Metern Spitze. Und Taylor Dayne geht mehr in Richtung Ballade und Disco. Nur Country habe ich noch nicht probiert. Mein größter Erfolg hier in Berlin waren meine 60er-Jahre-Sachen, mit Kleidern aus dieser Zeit. Meine Haare waren lang, und da habe ich 'nen Bienenkorb daraus gesteckt und Hairspray auf die Bühne gebracht. Ich arbeite mit meinem Publikum, will, daß es Teil meiner Show ist. Und wenn ich als Sexbombe auf die Bühne gehe, dann spiele ich eben mit den Typen. Und ich muß Reaktionen zurückbekommen. Nur dann habe ich auch Erfolg, wenn ich die Leute zu mir bringe."

Paul bestätigt, daß da noch mehr ist als perfektionistischer Ehrgeiz. "Ich mag das Gefühl, heterosexuelle Männer zu enttäuschen. Ich mache sie erst heiß, um sie dann fallen zu lassen wie einen Stein. Innerlich muß ich lachen. Das macht mir Spaß, weil ich auch sehe, wie sie mit Frauen umgehen. Und dann mag ich den Gesichtsausdruck, wenn ich irgendwann sage 'Ich bin ein Typ, und wenn du wegen meines Aussehens mit mir schlafen willst, dann wird das nichts. Wenn du akzeptieren kannst, daß ich zu Hause meine Perücke an den Nagel hänge und ich selbst bin, ein Mann, der auch als Mann lieben will, dann ist das okay.' Es gab viele Männer, die mit mir schlafen wollten. Aber es ist mir unangenehm, in Kostüm und Schminke eine Beziehung oder Sex zu haben."

Derzeit kollidieren Pauls berufliche Vorstellungen massiv mit seiner Krankheit. Als ich ihn danach befrage, wird er plötzlich sehr ruhig. "Ich habe einfach nicht die Kraft, psychisch und physisch. Und so, wie das derzeit mit meiner HIV-Infektion verläuft, will ich von allen nur in Ruhe gelassen werden, damit ich ein bißchen gesünder werden und dann wieder ein bißchen mit Shows anfangen kann. Ich bin ja seit einem halben Jahr nicht mehr aufgetreten." Hinzu kommt der Streß mit der Ausländerpolizei. Die Behörden wollen ihn raushaben aus Deutschland. Nachdem er nicht mehr arbeiten konnte, verlor er seine Stelle. Das Arbeitsamt wollte nicht zahlen, Paul beantragte Sozialhilfe. Nach einem Krankenhausaufenthalt arbeitete er stundenweise in einem Frisiersalon, für 120 DM monatlich. Doch dann wurde seine Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert; Paul, der stets Arbeitslosen- und Krankenversicherungsbeiträge bezahlt hatte, wurde als Sozialschmarotzer gedemütigt. Und obwohl die Senatsverwaltung für Soziales bestätigte, daß er nicht in die USA zurück kann, weil dort die medizinische Versorgung nicht gesichert und er auch nicht reisefähig sei, traktieren ihn die Ämter weiter, drohen mit Abschiebung. Weil Paul damit offiziell keinen ständigen Wohnsitz mehr in Berlin hat, wurde auch noch das im letzten Oktober gewährte Pflegegeld gestrichen. Klagen vor Gericht und dauernder Psychoterror machen dem Schwerkranken das Leben zur Hölle.

Ob er Heimweh hat? "Ja, nach meiner Mutter. Ich bin eigentlich immer noch Mommy's Little Boy. Ich habe Mutter gesagt, daß ich positiv bin, und sie will mich wieder zu Hause haben. Sie will mir helfen, soweit sie kann. Und sie hat mir gesagt, daß sie möchte, daß wir uns nach diesen zehn Jahren Trennung neu kennenlernen. Sie hat Angst, daß ich nicht rechtzeitig wieder zu Hause bin, daß, wenn ich sterbe, ich erst in der letzten Minute komme. Jetzt kann ich mit meiner Mutter über alles reden. Schon als ich nach Florida ging, sagte sie 'Ich mag nicht was du bist, aber ich liebe dich trotzdem'. Inzwischen hat sie angefangen, zu akzeptieren, wie ich bin. Wichtig ist mir, meine Tante wiederzusehen. Zu ihr habe ich ein sehr enges Verhältnis. Sie hat vor einiger Zeit erfahren, daß sie Krebs hat und nicht mehr lange leben wird, und mir geht es vielleicht ähnlich. Das hat uns einander viel näher gebracht als zum Beispiel mich und meine Mutter."

Und Amerika selbst? "Ich habe Heimweh wegen der Mentalität der Leute hier. Und zu Hause kannst du Käse in der Sprühdose kaufen, hier nicht. Es sind kleine Dinge. Ich mag die Deutschen in einer Richtung, und die Amerikaner in einer anderen. Ich mag die Deutschen nicht, weil sie so kalt sind, ich vermisse etwas die Freundlichkeit, die Warmherzigkeit der Leute. Aber hier in Deutschland kann ich machen, was ich will. Für die meisten hier ist Schwulsein kein Tabu, das ist in Amerika schlimmer. Wir haben den Ku Klux Klan und den konservativen republikanischen Norden. Ich komme aus dem zweiten Bundesstaat, der Schwulendiskriminierung verbietet, aber trotzdem ist der Mittelwesten sehr konservativ. Hier in Berlin muß ich nicht daran denken, daß jeder ein Gewehr haben kann wie bei uns. Wenn ich zurückgehe, denke ich, werde ich damit ziemliche Probleme haben. Am Mississippi, im Mittelwesten, das ist noch wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn und hat nichts mit Mode zu tun. In Chicago kannst du was erleben, doch das ist drei Stunden weg. Aber der Landstrich zwischen Mississippi und Chicago ist wie abgeschnitten von der Welt.

Es ist Abend geworden. Zwei Stunden haben wir miteinander geredet, Müdigkeit ist in Pauls Augen geschlichen. Ich mache mich auf den Weg; im Flur schnurrt Benny um meine Beine. "Ich geh' nicht mehr so oft aus", sagt Paul leise, "da ist Besuch für mich sehr wichtig." Sanft drückt er meine Hand: "Danke, daß du gekommen bist und mit mir gesprochen hast."

Erschienen in Freitag, 7. 7. 1994