Pessimistische Kömödie

Zum "sozialistischen Klotzbau, der von außen aussieht wie ein schiefstehender Schuhkarton", erklärte es die sonst so eitel kulturbeflissene "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Heute vor fünfzig Jahren wurde das Berliner Kino "International" eröffnet. Von Eike Stedefeldt

"Ihr festlicher Theaterabend beginnt im gläsernen Windfang, wo Sie sich der rechten oder linken Kasse zuwenden; der Kartenpreis ist eher symbolisch. An der von Ihnen gewählten Seite: sagen wir links, nimmt Ihnen die Garderobiere den Paletot ab. Die ringförmige Bank, vom Architekten in die rechte hintere Ecke der Garderobenhalle positioniert, ist belegt. Ohnehin warten Sie lieber sechs Meter höher im Foyer – Sie nehmen auch dorthin die linke Treppe. Während Sie sich vom Buffet ein Glas Sekt holen, aus einer der verschiedenfarbigen Clubgarnituren durchs Panoramafenster den Blick auf die Allee genießen, fällt peu à peu der Streß des Arbeitstages von Ihnen ab. Durch eine Schallschleuse in den ranglosen, mit Senesche verblendeten Saal gelangt, strecken Sie in einem der 610 Sessel sitzend die Beine aus. Schon wird der Vorhang gezogen. Als er sich nach der Aufführung schließt, gehen Sie hinab zur Bühne und dort zum linken Ausgang. Der führt jetzt zur Rückseite "Ihrer" Garderobe, von wo aus das Gebäude Sie in die Nacht entläßt. Oben betreten derweil, ungehindert von den Gehenden, die Besucher der Spätvorstellung den Saal.

Minutiös waren die Publikumsströme berechnet, intuitiv folgten die Gäste den Wegen. Der bis weit vors Entree gelegte Kunststeinboden des Innenraums geleitete sie mit unsichtbarer Hand in die Kassen-, dann die Garderobenhalle des "Kino 600". So lautete der Arbeitstitel des kleineren der beim Architektenkollektiv Josef Kaiser im VEB Berlin-Projekt für die Karl-Marx-Allee in Auftrag gegebenen Lichtspielhäuser. Das andere war das "Kino 1000" – die Zahlen verweisen auf die Zuschauerkapazität. Das "Kino 1000", das größte der Republik, eröffnete am 5. Oktober 1962 als "Kosmos". Der zunächst vorgesehene Name war somit frei für das 600er-Haus: "International".

Josef Kaiser (1910-1991) legte 1959 erste Entwürfe vor, das Grundprojekt stand 1960 und das Ausführungsprojekt des Bauingenieurs Heinz Aust 1961. Baubeginn war im August. Das um die drei fensterlosen Seiten laufende Wandrelief nach Ideen Waldemar Grzimeks umzusetzen oblag den jungen Bildhauern Hubert Schiefelbein und Karl-Heinz Schamal. "Es setzt sich aus nur zwei Formen von Reliefsteinen und 14 figürlichen Skizzen des Lebensablaufs werktätiger Menschen zu einem heiteren und doch kräftigen Gesamtornament zusammen", schrieb Kaiser in Heft 1/1964 der Deutschen Architektur; "Sujets aus unserer Wirklichkeit, wie Tierpark, Kindergarten, Volksfest. Hochschule und andere" präzisierte Schiefelbein am 16. August 1964 in der Berliner Zeitung. Kaiser hob die "frei auskragende Anordnung des verglasten Foyers über die gesamte Vorderfront" hervor. Sie bewirkt, daß der funktionsbedingt massige Stahlbeton-Korpus einen nicht erdrückt und ein zeitlos modernes Gesicht hat.

Überhaupt ist das Bauwerk nur in weiter gefaßtem Kontext zu verstehen, was Betrachter, zumal oberflächliche, überfordern muß, die ein anderes System sozialisiert hat. Wem die inneren Beziehungen, die auch individuellen politischen Prioritäten einer nicht an Profit orientierten Realität mangels eigenen Erlebens fremd sind, dem fehlt dazu einfach der Maßstab. Dieses Kino war eben nicht bloß Kino, sondern ein Kulturzentrum, das mit Stadtteil- und Kinderbibliothek im Erdgeschoß und Vortrags-, Klub- und Fernsehräumen über den Treppenaufgängen im zweiten Obergeschoß zum Wohngebiet gehörte.

Sozial, kulturell, architektonisch und stadtplanerisch bezog es sich zudem intensiv auf umliegende Gesellschaftsbauten, deren klare Linien, helle Fassaden, feine Strukturen, hohe Glasflächen, lichte Räume den State of the Art und zugleich die ungemein optimistische Stimmung in der jungen DDR verkörperten: Hotel Berolina, Café Moskau, Mocca-Milch-Eis-Bar, Kosmetiksalon Babette, Blumenhaus Interflor/ Modesalon Madelaine.

Der Bau hatte nicht nur medial enormes Aufsehen erregt; gespannt sah man der Vollendung entgegen. "Am gestrigen Freitag wurde in der Hauptstadt das neue Kino, das den Namen 'International' trägt, an den VEB Berliner Filmtheater übergeben", las man im Neuen Deutschland am 19. Oktober 1963, das über etwas auch im Ausland recht Seltenes staunte: die "Klima- und Schwerhörigenanlage".

"Der Erste Sekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht", berichtete die Berliner Zeitung am 16. November 1963 vom Vorabend, "war am Freitag herzlich begrüßter Ehrengast des neueröffneten Kulturzentrums 'Kino International' in der Berliner Karl-Marx-Allee. Seine Gattin, Lotte Ulbricht, begleitete ihn." Im Saal waren Sowjet-Botschafter Abrassimow und weitere Vertreter des Corps diplomatique, Volkskammer-Präsident Dieckmann und Oberbürgermeister Ebert. Die Rede hielt Ernst Hoffmann, Stadtrat für Kultur. "Nach der Ansprache erlebte das vollbesetzte Haus die festliche Premiere des sowjetischen Films 'Optimistische Tragödie', der 1963 in Cannes mit einem Sonderpreis ausgezeichnet wurde … Herzlicher Applaus galt einem der Hauptdarsteller des Films, Boris Andrejew, und dem Kameramann Wladimir Monachow, die zur Premiere nach Berlin gekommen waren."

Den Eröffnungsstreifen am 50. Geburtstag noch mal zeigen, das alte Plakat noch mal aufhängen? Das Naheliegende zu lassen, hat seine Logik. Ein Revolutionsdrama wäre wohl der falsche Film gewesen. Man muß da nicht mal Ignoranz, Desinteresse, Herablassung vermuten: Ein Gebäude dient im Kapitalismus anderen Zwecken, als Menschen oder Kultur gut zu behausen, es ist Ort und Gegenstand der Verwertung. Dies zeigte sich 1990, als die Treuhand Berlins kommunale Kinos mit dem Argument beanspruchte, es handele sich um Wirtschaftsbetriebe, während der Magistrat darauf bestand, als Kulturstätten gehörten sie ihm. Die Konquistadoren obsiegten und verscherbelten das "International" im März 1992 an die Groenke-Guttmann und die Bergholz/Weiss GmbH. "Das Filmtheater 'International' hat einen neuen Betreiber", meldete die Neue Zeit am 16. Oktober 1992. "Pächter ist ab 15. Oktober die Berliner Yorck Kino GmbH. Unter den von der Treuhand verkauften zehn Ostberliner Kinos galt das 'International' vor allem wegen der Nähe zum Alex als eines der lukrativsten Objekte." – Als Immobilie!

Daß es dem Abriß entging und zur wenigstens noch irgendwie an Filmkunst interessierten Yorck-Gruppe kam, ist ein schwacher Trost. Hat doch letztere, anders als eine Bezirksfilmdirektion, keine Mittel, ein so intensiv genutztes Haus im Vier- bis Sechsjahres-Turnus zu renovieren oder die Polster neu zu beziehen. Schlimmer noch, geht ihm genau das an die Substanz, was es retten soll: Partys. Zur "Location" degradiert, hängen Discokugeln zwischen einst 20000 Mark teuren Kristall-Leuchten, verkamen die Garderoben zum Getränkelager und Ausschank, zersplittern Hubwagen und Bierkisten Verkleidungen und Einbauten aus edlem Kirschbaum. Oben platzt das Parkett auf, dem noch zu DDR-Zeiten der hellblaue Dederon-Teppich weichen mußte, unten verdrecken in Kniehöhe Schuhsohlen gelbe Werksteinriemchen, die nahe der Decke von Gewindebolzen für Bühnentechnik zerstört werden. Kaisers goldfarben eloxierten Himmel in der Garderobenhalle, dessen 242 Lampen die Messingeinlagen im Boden blitzen lassen, verbog die Last übergeworfener Kabel, Teile der "senkrecht gestabten Holzverkleidung" wurden ohne Not mit weißem statt schwarzem Stoff hinterspannt und der "fliegende Stuckteppich" an der Saaldecke hat Flecken. Wohin man blickt, scheint das Denkmal Unkenntnis und handwerklichem Dilettantismus ausgeliefert. Der schleichende Verfall hat Ursachen, vor denen zum Jubiläum sanierte Klos aussehen wie die Requisiten einer billigen Filmkomödie. Ein festlicher Theaterabend im "International"? Pardon, das war einmal.


Eike Stedefeldt

Erschienen in junge Welt, 15. November 2013

Anderer Beitrag?