Kreuzberger Notizen

Wieder mal umgezogen, Flucht aus dem "Deutschen Haus". Letzte Mietpartei einer Halb-Ruine im Nirgendwo zwischen Köpenick und Treptow zu sein war erträglich, bis gegen drei Uhr nachts eine Horde germanischer Jungmänner das Gebäude unter Beschuß nahm – mit Schottersteinen vom nahen Bahndamm – und die alarmierte Polizei, sicher ist sicher, erst eine Stunde später auftauchte.

Unser neues Quartier, ein ehemaliges Offizierswohnhaus, Baujahr 1870, mitten in Kreuzberg, wirkt sehr vornehm. Die Umgebung ist ebenso wohlgeordnet, die Infrastruktur dichter und bunter, als ich sie je erlebt habe. Ich kann auf einmal die Arbeit vergessen, sitze tagsüber in alternativen Lokalen und bummle nächtens durch die große weite Welt, die sich hier mit 33 Prozent angesiedelt hat. Ich gehöre zur Ethnie der Ossis.

Als überzeugter Ungültigwähler wäre mir in Köpenick der nahe Urnengang schnurz gewesen. Aber hier? Immerhin bin ich einer der privilegierten Zuwanderer und "genieße" Wahlrecht. Noch dazu ist hier für die Parteien sogar meine Lebensweise von Belang.

Im Café Melitta Sundström am Mehringdamm, gewidmet dem Andenken an die berühmte Berliner Soul-Tunte, greife ich eine Zeitung, worin mir zwei besserverdienende heiratswillige Herren in blau-gelbem Partnerlook mitteilen "Es ist Ihr Leben", und ich möge ob dieser frohen Kunde am 27. die FDP bekreuzigen. – Sorry. Auf der Gneisenaustraße verkündet die PDS wortkarg: "Geil!" Das ist nach Gutdünken auslegbar und klingt zumindest nicht nach ewiger Treue. Das Plakat vor jenem Haus, in dem Deutschlands einziger Lesbenpuff dienstleistet, ist völlig deplaciert. Es zeigt Skatkarten; zwei Herz-Buben illustrieren die Behauptung "Schwule wählen SPD". – Und Lesben?

Die Grünen kleben den Bezirk mit Tango-Paaren zu: je zwei Herren und zwei Damen. Erstmals traf mein Blick das Poster, als ich im Morgengrauen leicht umnebelt eine Bar na-mens Ficken 3000 verließ. "Wir bringen die Verhältnisse zum Tanzen", verspricht es. Schön, aber ich fürchte, auch mit "www.gruene.de" ist die rauschende Ballnacht irgendwann zu Ende und die Verhältnisse erweisen sich dem Wesen nach als die alten.

Unser Haus wird seit Monaten von Jochen Feilckes Konterfei belagert. In der CDU rede man nicht über Homosexuelles, das sei alles Privatsache und ginge den Staat nichts an, sagte er unlängst auf einem Forum. Das finde ich prima, nur habe ich den Verdacht, der stramm rechte Herr meint das ganz anders als etwa Ovo Maltine alias Christoph Josten, jene autonome Polit-Tunte, die sich als Einzelkadidatin um einen 16.000 Mark-Job bewirbt.

Ans Herz gewachsen ist mir lediglich der vor meinem bevorzugten Thai-Restaurant hän-gende Slogan der Anarchistischen Pogo-Partei: "Arbeit ist Scheiße". Endlich ein klares Wort. Vielleicht gehe ich ja doch wählen.

Eike Stedefeldt

Noch eine?